Nachgemacht oder Original: Wie authentisch ist TikTok wirklich?

von Marlena Flachs, Nora Fleing, Lara Scheipers, Milena Schleier und Alina Schütz

Fotos: Canva / Pexels

„Darf ich deine Hausaufgaben abschreiben?“ – „Ja, aber mach’s nicht zu
offensichtlich.“ Das erklärt das Prinzip von TikTok wohl am leichtesten, lässt
gleichzeitig jedoch einige Lücken offen. NutzerInnen suchen sich einen Sound oder
eine Challenge aus und filmen ein Video mit oftmals der gleichen Choreografie wie alle
anderen – gleich, aber doch ein bisschen anders – und erreichen damit eine Reichweite
von Millionen Zuschauer*innen. Das Thema Selbstdarstellung ist dabei stets präsent. In den kurzen Videos inszenieren sich die Nutzer*innen, indem sie sich zu den
ausgewählten Songs präsentieren. Doch wie individuell und persönlich können sich
Nutzer*innen auf der Plattform überhaupt darstellen?

Authentizität auf TikTok

Um von Authentizität in sozialen Medien sprechen zu können, muss zunächst geklärt
werden, was es überhaupt bedeutet, authentisch zu sein. Der Begriff „Authentizität“
meint im Rahmen dieses Beitrags, sich individuell und persönlich in Social Media zu
zeigen. Dabei geht es nicht nur darum, wie viel Personen aus ihrem persönlichen Alltag
teilen wollen, sondern auch darum, wie glaubwürdig und realitätsnah die Inhalte auf
der Plattform sind. Im Vordergrund stehen hier die Intentionen der User*innen oder auch die Echtheit der Inhalte. Ersteres meint beispielsweise, ob Nutzer*innen hinter
ihrem Content stehen oder alles nur produzieren, um damit aufzufallen und ihren
Bekanntheitsgrad zu steigern. Letzteres betrifft die Originalität des Contents. Ist ein
Inhalt nachgeahmt oder inszeniert, ist er nicht „echt” im Sinne von „ein Original
sein“. Besonders bei TikTok kann es schwierig sein, gespielte Authentizität zu
erkennen, da viele der Videos trotz der Inszenierung davon leben, spontan und „echt”
zu wirken.

Wie funktioniert TikTok?

Das Besondere der Social-Media-Plattform ist der verwendete Medientyp: es können
ausschließlich Videos hochgeladen werden. Anders als bei Instagram oder Facebook
werden auf der Startseite von TikTok keine abonnierten Inhalte angezeigt, sondern die
„For-You“-Page. Hier sehen die Nutzer*innen vom Algorithmus vorgeschlagene Videos. Diese werden auf Grundlage von Popularität oder Viralität durch den Algorithmus und des Like-Verhaltens der jeweiligen User*innen ausgewählt. Es geht dementsprechend um Videos, die eine starke Reaktion in Form von Downloads, Likes, Shares etc. hervorrufen. Dafür sollten die Inhalte für die User*innen leicht zugänglich und strukturiert sein. Das heißt, dass sie alltagsnah und nicht zu komplex gestaltet sind. Wie auch auf anderen Plattformen können Hashtags wie #foryou oder #fyp (kurz für: #foryoupage) dazu genutzt werden, um die Reichweite des Videos zu erhöhen. Das Besondere an TikTok ist, dass entgegen anderer Netzwerke beim Erstellen von Inhalten oft auf der gleichen Basis – wie etwa demselben Sound – begonnen wird. Die sogenannte „Renegade-Challenge” veranschaulicht den viralen Mechanismus. Die 14-Jährige Jalaiah Harmon hat auf der Grundlage des Liedes „Lottery” von K CAMP eine Choreografie entwickelt, welche nun weltweit bekannt ist. Wenn Nutzer*innen an der Challenge teilhaben möchten, müssen diese den vorhandenen Sound dem eigenen Video hinzufügen. Dadurch wird ihr Video zusammen mit allen anderen, die diesen Sound verwenden, unter jenem Sound gelistet. Somit baut man auf einer gemeinsamen Basis eine Challenge auf (eine Zusammenstellung verschiedener Beispiele dieser Challenge unter: https://www.youtube.com/watch?v=FukgMwwdwPM). Urheberrechte des verwendeten Materials werden dabei jedoch selten beachtet. Anhand verschiedener Filter, Texttools und Bearbeitungswerkzeuge können User*innen ihre Videos anschließend gestalten, schneiden und somit potenziell auch ihre eigenen Stories erzählen. Durch die aktive Teilnahme kann diesbezüglich nicht nur auf Trends reagiert, sondern ebenso die Aufmerksamkeit für eigenen Content gefördert werden. TikToks Algorithmus ist so programmiert, dass jedes Video zu einem viralen Erfolg werden kann. Jedoch muss ebenfalls berücksichtigt werden, dass TikTok selbst Inhalte massiv steuert und zensiert.

Fehlende Authentizität aufgrund von Nachahmung und selbstoptimierter Darstellung?

Social-Media-Plattformen wie TikTok animieren dazu, sich an äußeren Standards zu
orientieren. Performances und Choreografien bekannter Stars, Hit-Songs und aktuelle
Trends und Challenges werden von den TikTok-User*innen übernommen und imitiert. Sie werden ein Stück weit zu einer Eigenkreation transformiert, doch lässt sich oftmals der Nachahmungsprozess dahinter zweifelsfrei identifizieren. Teilweise stellen die Content-Creators diesen bewusst heraus, indem sie die Performances der Stars und ihre eigene im direkten Vergleich gezielt nebeneinanderstellen. Dies lässt sich beispielhaft an den beiden Jugendlichen Miki und Mati aufzeigen, die die Choreos der beiden bekannten TikTok-Stars Lisa und Lena nahezu identisch imitieren und ihr Video in Form eines Duetts neben das Original stellen (siehe: https://vm.tiktok.com/JduUUEp/). Meistens werden solche Nachahmungs-Videos jedoch nicht in einem direkten Nebeneinander (Duett) publiziert, sondern eigenständig präsentiert. Die Bezeichnung von Reaktionsvideos auf TikTok als „Duett” verdeutlicht nochmals das Ideal der Plattform, die Nutzer*innen als Gemeinschaft zu vereinen. Zu den derzeitigen Trends, an denen sich die herrschende Reproduktionspraxis auf TikTok nachweisen lässt, zählen die bereits erwähnte „Renegade-Challenge” oder auch die aktuelle „This Is My Voice Compilation“, bei der die Imitation von unterschiedlichen Stimmen im Vordergrund steht (siehe hierfür: https://www.youtube.com/watch?v=Hs-xDZzJq-4). Darüber hinaus können auch ältere Songs oder Choreografien wieder populär werden, wie auch die Choreografie des „High School Musical”-Songs „We are all in this together” (siehe: https://www.youtube.com/watch?v=0uGBkVHFO0k), um den Zusammenhalt in der Coronakrise zu verdeutlichen.

Die Darsteller*innen optimieren sich selbst und ihr Leben anhand von Vorlagen, von bekannten Persönlichkeiten. Die Anpassung steht hier im Fokus und eine „kollektive Identität“ wird diskursbestimmend. Nutzer*innen auf TikTok zielen darauf ab, sich als
ein Mitglied einer sozialen Gruppe zu fühlen und streben weniger danach, eine
unverwechselbare und individuelle Persönlichkeit auszubilden und zu präsentieren.

Andererseits nutzen einige User*innen die Plattform auch, um private Details aus ihrem Leben zu teilen. Die Lyrics „girls wanna play with boys and the boys wanna play with girls and the girls wanna play with girls, boys wanna play with boys” werden beispielsweise verwendet um Freundinnen und Familienangehörigen die eigene Sexualität zu offenbaren (siehe: https://www.youtube.com/watch?v=15Ak8L9MbVE). Auch hier kann von einem Trend gesprochen werden, da sich der Kontext – das Outing – immer wiederholt. Im Gegensatz zu den Tänzen kann hier aber eher von einer authentischen Selbstdarstellung gesprochen werden, da die Nutzerinnen eine private Information veröffentlichen. Ein „Geheimnis” wird über Social Media geteilt und die Rezipient*innen des Videos fühlen sich mit einbezogen. Einige Nutzer*innen offenbaren ihre Sexualität in dem Video nur ihren Follower*innen, andere zeigen gescheiterte Outing-Versuche, bei denen ihren Eltern beispielsweise nicht klar wird, was durch den Sound impliziert wird. Die Spontanität und die unvorhersehbare Reaktion auf das Outing lässt die Videos besonders authentisch wirken. Trotzdem muss betont werden, dass in der Mehrzahl der Videos das Outing von den Außenstehenden als positiv gewertet wird. Wie auf allen Social Media Plattformen ist fraglich, ob die Trends repräsentativ für die Gesellschaft sind und inwiefern sie eine Filterblase darstellen.

Fazit

TikTok ist eine Plattform, die es User*innen ermöglicht, viral zu gehen. Die Beispiele zeigen, dass es durchaus möglich ist, sich authentisch auf TikTok zu präsentieren. Allerdings zeugen die verschiedenen Inszenierungsstrategien eher davon, dass Authentizität gegenüber einer überzeugenden Darstellungsleistung eine untergeordnete Rolle spielt. Dabei ist es schwierig, die tatsächliche Motivation hinter einem Video zu erkennen: Geht es um Likes oder persönliche Selbstoffenbarung? Mit den Videos werden neben den Follower*innen auch anonyme Gruppen auf der „For You-Page” angesprochen. Daher sollten die Inhalte leicht zugänglich und strukturiert sein, damit sich die Zuschauer*innen mit den Videos identifizieren können. Somit fühlen sich die Nutzer*innen durch eine kollektive Identität verbunden, auch wenn die Inhalte der Videos nicht unbedingt authentisch sein mögen. Vielleicht liegt es genau an diesem Kollektiv, dass Tiktok so einen Erfolg erzielt und Nr.1 im deutschen App Store in der Kategorie „Unterhaltung” ist.

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