Wissenschaftler*innen – Advokat*innen ihres Fachs oder neutrale Akteur*innen?

von Julia Marie Heck, Saskia Lindemann, Natalie Neumann, Paula Porten und Anna-Marie Pohle

Die Wissenschaft ist, abgesehen von der Frage, ob der Klimawandel menschengemacht und die größte Bedrohung für die Menschheit darstellt, eigentlich gespalten. Besonders bei der Frage, was überhaupt die Rolle von Wissenschaftler*innen ist. Sind sie auf den medialen Bühnen der Welt stehende Verfechter*innen ihres Fachs und Unterstützer*innen der Politik oder sind sie im Theater dieser Welt die objektiven Zuschauer:innen?

Aber fangen wir am Anfang an – Eine kleine Geschichtsstunde 

Die ersten modernen Wissenschaften entstehen im 17. und 18. Jahrhundert. Wissenschaftliche Interaktionen sind damals noch beschränkt auf die wissenschaftliche Welt an sich. Es gibt schon weit länger erste Vorläufer, beispielsweise in der Antike und dem Gelehrtentum des Islams. Mitte des 19. Jahrhunderts wird Wissenschaft zunehmend zum Beruf. Was ehemals Hobby oder Berufung war, ist nun entlohnte Arbeit. Ab 1900 verbreitet sich im deutschen Raum der Begriff „Wissenschaftler“ und vor dem 1. Weltkrieg ist Wissenschaft als Profession endgültig etabliert. 

Von Beginn an hat man festgelegt, möglichst neutral zu kommunizieren. Im Jahr 1660 wird mit der Gründung der Royal Society of London deshalb eine erste Bemühung unternommen, ohne Rhetorik zu kommunizieren und eine “reine Sprache” zur Vermittlung zu verwenden. Die Zielvorstellungen des Systems Wissenschaftskommunikation haben sich im Laufe der Zeit verändert. Vor 1885 ist das Hauptanliegen, das Wissen der breiten Öffentlichkeit zu erhöhen und über wichtige Erkenntnisse zu informieren. Die Wissenschaftskommunikation übernimmt hier die Rolle eines „Lehrers“. Ab 1985 ändert sich diese Rolle. Mit Hilfe der Wissensvermittlung und ihrer Erkenntnisse wollen Wissenschaftler*innen nun auch ansatzweise soziale Einstellungen verändern.

Neutral oder Politisch?

Wissenschaft versorgt uns mit Fakten und Wissen über einen Sachverhalt, gibt uns aber keine klaren Empfehlungen, was wir mit dem Wissen anfangen und wie wir uns verhalten sollen. Wie dann konkret gehandelt wird, ist uns und unseren gewählten Vertreter:innen überlassen. Um Mai Thi Nguyen-Kim zu zitieren: „Wissenschaft sagt euch nicht, ob ihr an Klobrillen lecken sollt oder nicht. Sie sagt euch nur, was ihr da aufleckt“.

Problematisch ist, dass wir eigentlich häufig genau das Gegenteil verlangen: Wir wollen klare Meinungen, Empfehlungen und Positionen zu brisanten Themen und wir wollen, dass diese sich möglichst nicht verändern. Man sieht das oft, wenn Expert:innen zu Talkshows eingeladen werden und dann bei Markus Lanz auf dem “heißen Stuhl” um Antworten genötigt werden. Wissenschaft funktioniert allerdings umgekehrt. Sie forscht nach dem Falsifikationsprinzip: Die Wahrheit ist nur so lange die Wahrheit, bis jemand das Gegenteil festgestellt hat. Per “Trial-and-Error” Methode werden heute Erkenntnisse gewonnen, die morgen vielleicht wieder verworfen werden müssen. Theorien und Hypothesen, die mehrfach belegt werden, sind zuverlässiger als andere. Als Expert:in gilt, wer sich in seinem Forschungsgebiet auskennt und einen Namen gemacht hat. Für Politiker*innen und Bürger*innen in Krisenzeiten, ist es dagegen schwierig keine Ja-Nein-Antwort auf wichtige Fragen zu bekommen.

Die Wissenschaft hat es sich schon früh zur Aufgabe gemacht, neutral zu agieren und zu formulieren. Gilt das aber auch in Zeiten, in denen die Menschheit mit globalen Krisen zu kämpfen hat? Eine Studie zum Selbstverständnis von Klimawissenschaftler*innen zeigt, dass ein großer Teil der Wissenschaft beim Thema Klima deutlicher werden möchte und sich in der Verantwortung fühlt, proaktiver über den Klimawandel und seine Folgen zu warnen. Der andere Teil der Wissenschaftler:innen sieht sich weiterhin nicht in der Öffentlichkeit.

Eine ähnliche Problematik stellt sich auch in Bezug auf die Wissenschaftskommunikation der Corona-Pandemie.

Virologen wie Christian Drosten oder Henrik Streeck kamen im Verlauf der Pandemie immer weiter aus ihrer „Forschungskomfortzone“ hervor. Am Beispiel dieser beiden wird deutlich, wie unterschiedlich Forscher*innen in die Öffentlichkeit treten. Christian Drosten liefert viel wissenschaftlichen Input. Themen, die außerhalb seines Spezialgebietes oder im Bereich politischer Maßnahmen liegen, kennzeichnet er sehr genau. Hendrik Streeck, der ebenfalls sehr viel wissenschaftlichen Input liefert, äußert sich teilweise aus seiner Perspektive als „Bürger“. Natürlich sind auch Wissenschaftler*innen Menschen und dürfen eine eigene Meinung haben. Für Laien ist es aber oft schwierig zu unterscheiden, ob die Meinung von jemandem wie Herrn Streeck auf seiner Expertise fußt oder davon unabhängig formuliert wird.

Die Wirkung von Plattformen wie z.B Twitter, Instagram, TikTok und Youtube verändert ebenfalls die ehemals bestehende Logik von Wissenschaftskommunikation. Wissenschaftliche Erkenntnisse sind nicht länger nur im akademischen Raum in Journal-Artikeln oder „dicken Wälzern“ auffindbar. Dementsprechend brauchen Wissenschaftler:innen de facto auch keine Journalist:innen mehr, um ihre Ergebnisse in die Welt zu tragen. Es gilt, was für alle Menschen mit stabilem Internetzugang seit Beginn des Internets möglich ist: Mit einem Klick wird jeder selbst Publizist*in. Eine Entwicklung, die je nach Perspektive gut oder schlecht sein kann.

Probleme und Herausforderungen: Die Manege der Medien

Wie immer hat die schillernde Seite des Internets und der sozialen Medien ihre berühmt-berüchtigte Kehrseite. Denn, wie auch Christian Drosten am eigenen Leib erfahren musste, sind Shitstorms und digitale Anfeindungen im Zeitalter von Social Media für Personen des öffentlichen Lebens keine Seltenheit mehr. Bei vielen wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen, die an Hochschulen forschen, kommt jedoch noch eine Besonderheit hinzu: Heute reicht nur eine kurze Google-Recherche, um auf den Uni-Websites genau herauszufinden, in welcher Uni, welchem Gebäude, welchem Büro Forschende zu finden sind. Eventuell steht sogar noch eine Telefonnummer dabei.

Werden Anfeindungen öffentlich bekannter Wissenschaftler*innen, deren Antworten auf die gesellschaftspolitischen Fragen unserer Zeit vielleicht nicht jedem gefallen, bald nicht mehr nur digital, sondern sehr real sein? Müssen Wissenschaftler*innen sich in Zukunft entscheiden, ob sie es riskieren, Advokaten für ihr Fach zu werden oder den „sicheren Weg“ gehen und sich dem öffentlichen Auge entziehen? Welche Spuren hinterlässt die Erfahrung mit der Corona-Pandemie bei Wissenschaftler:innen? Gibt es weiterhin die Bereitschaft als Privatperson in die Manege der Medien einzutreten?

Das alles sind Fragen, die die Beziehung zwischen Öffentlichkeit und Wissenschaft, aber auch die Wissenschaftskommunikation betreffen, und in den nächsten Jahren zu weiteren Veränderungen führen werden. 

Quellen:

Bauer, M. W. (2017). Kritische Beobachtungen zur Geschichte der Wissenschaftskommunikation. In: Forschungsfeld Wissenschaftskommunikation. Ed. By H. Bonfadelli, B. Fähnrich, C. Lüthje, J. Milde, M. Rhomberg und M. S. Schäfer. Wiesbaden, Germany: Springer VS, S.17-40.

Hoffmann, E., Winkels, R., Serong, J. & Peters, H.P. (2021, 19. März). Rollen in der Wissenschaftskommunikation. In Wisskomm-Quartett – Nachdenken über Wissenschaftskommunikation. https://open.spotify.com/show/4n1GqOqwtz7FOzX864sguJ

maiLab. (2020, 19. April). Virologen-Vergleich [Video]. YouTube. https://www.youtube.com/watch?v=u439pm8uYSk 

Nguyen-Kim, M.T. [maithi_nk]. (2021, 24.Oktober). Wissenschaft sagt euch nicht, ob ihr an Klobrillen lecken sollt oder nicht. Sie sagt euch nur, was ihr da alles aufleckt. [Tweet]. Twitter. https://twitter.com/maithi_nk/status/1452300468609290254

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